Über das Werk
Zwischen 1939 und 1942 wird die freie Linie bestimmendes Kompositionselement in den Arbeiten von Sophie Taeuber-Arp. Über 100 Linienbilder – meist in Bleistift oder Farbstift auf Papier, selten auch in Wasserfarben, Farbkreiden oder Öl ausgeführt – bilden einen ungewöhnlichen Kontrast in dem von geometrischen Formen dominierten Œuvre der Künstlerin.
Auf feinen Linien basierte Bleistift- oder Farbstiftzeichnungen finden sich vor allem im Kontext von Entwurfszeichnungen: Studien zu Marionetten, Reliefs und Skulpturen meist aus oder in Skizzenbüchern, Entwürfe zu (innen)architektonischen Projekten, später auch Stadt- und Landschaftsansichten. Formal scheint die umfangreiche Bilderfolge der komplexen Linienkompositionen an die filigranen Konturzeichnungen stilisierter Muscheln, Schirme oder Blätter anzuknüpfen, die Sophie Taeuber-Arp zur Illustration von Hans Arps Gedichtband »Muscheln und Schirme« (1939) entwickelte.
Die zuvor geschlossenen Umrisslinien öffnen sich zu freien Linien und gehen in verknoteten Schleifengebilden oder miteinander verwobenen Geflechten auf. Gerade und geschwungene, schwarze oder farbige Linien schweben vor einem neutralen, bisweilen auch unruhigen Grund und werden in immer neuen Variationen kombiniert. Bereits 1922 regte Taeuber-Arp in ihrer kurzen Abhandlung zum Unterricht im Entwerfen dazu an, mit der Linie zu experimentieren: »Versuchen Sie, was für Ausdrücke man mit verschiedenen Wellen- oder Zackenlinien erzielt. Versuchen Sie, diese Linien auf komplizierte Weise zu verschlingen.« (Sophie Taeuber-Arp, Bemerkungen über den Unterricht im ornamentalen Entwerfen, in: Korrespondenzblatt des Schweiz. Vereins der Gewerbe- und Hauswirtschaftslehrerinnen, Zürich, 14. Jg., Nr. 11/12, S. 158).
Auch wenn die einzelnen schwungvollen Linien und Formenkonturen auf den ersten Blick spontan entwickelt und freihändig gezeichnet wirken, sind sie doch präzise vordefiniert: Unter einigen Farbstiftzeichnungen etwa lassen sich feine Bleistiftvorzeichnungen ausmachen, die Einblick in den Arbeitsprozess der Künstlerin geben. Einzelne Linienstränge zeichnete Sophie Taeuber-Arp vor und füllte sie anschließend farbig aus. Druckspuren, nahezu identische oder spiegelverkehrte Arbeiten sowie erhaltene Vorzeichnungen auf Transparentpapier lassen zudem auf ein schablonenartiges Arbeiten und die Wiederverwendung von bereits entwickelten Elementen schließen. Die Künstlerin spielte mit den zahllosen Möglichkeiten von Anordnungen und Erweiterungen der Linien. Das vorliegende Beispiel zeigt eine seltene, reine Bleistiftzeichnung. Vermutlich handelt es sich hier um eine Vorstufe oder eine Studie zu einem Linienbild.
In der Forschung werden die »unruhigen« Linienkompositionen und die dafür verwendeten Materialen – Bleistift, Farbstift, Papier – immer wieder auf die Umstände der Kriegszeit zurückgeführt (vgl. Hauptman 2021, S. 266 und Wilker 2021, S. 301). Häufig werden die rhythmisch-geschwungenen Linienbilder auch in Zusammenhang mit Taeuber-Arps Tanzerfahrung bei Rudolf von Laban (1978–1958) gebracht, da sie an Choreografiezeichnungen erinnern. Gelegentlich werden die Linien auch mit Wollfäden ihrer Textilarbeiten assoziiert.
[Anna Schrader]
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